
Die Zeit in unserem Ferienhaus in Faro neigt sich dem Ende zu. Wir haben bereits begonnen, hier Wurzeln zu schlagen, kennen unsere täglichen Versorgungswege zum Supermarkt, Tankstelle, unseren Lieblings-Stränden und sogar eine gute Autowerkstatt haben wir gefunden. Unsere Nachbarn sind gute Freunde geworden und Lucca fühlt sich mit seiner kleinen Freundin Klara sehr wohl. Dementsprechend traurig ist der Abschied. Wir verlassen unsere neue Komfortzone und ich ahne, dass jetzt große Herausforderungen auf uns warten werden. Wir zögern, überlegen das Ferienhaus zu verlängern. Doch Luccas Schule beginnt in drei Tagen und ein tägliches Pendeln zwischen Faro und Lagoa wäre doch sehr zeitaufwendig. Am Ende seufzen wir, schauen uns in die Augen und beschließen, uns den Herausforderungen zu stellen. Es erwartet uns eine riesengroße, staubige Baustelle voller offener Gräben, bunter Schläuche und dem Dauergeräusch von Baggern, Radladern und Walzen.
Zwei Stunden später atmen wir auf. Der Wohnwagen steht wohlbehalten und einigermaßen gerade auf unserem Grundstück im Tinyhaus Village. Holger hatte in den letzten Wochen viele schlaflose Nächte bei der Vorstellung, das große Gespann wieder den engen und windigen Schotterweg vom Berg unseres Ferienhauses hinunter zu manövrieren. Am Ende lenkt er die Fahrzeuge elegant und gekonnt um die engen Kurven und nach wenigen Minuten hat das Gespann wieder festen Boden unter den Rädern.

Nach der ersten Erleichterung, dass die Überfahrt gut geklappt hat, folgt eine Ernüchterung nach der nächsten. Es wurde uns zugesichert, dass alle Anschlüsse am Plot fertig sind, wenn wir ankommen. Doch das Einzige, was wir erkennen können, ist ein dicker schwarzer Wasserschlauch, der einsam aus der roten Erde schaut. Von Strom keine Spur und das Abwassersystem ist noch nicht angeschlossen. Immerhin wurde der Schotter aufgebracht, den wir wenige Tage vorher in Auftrag gegeben haben. Holger wird nervös. Ich bin überfordert. Wir sehen beide den großen Berg Arbeit, den wir in kurzer Zeit erledigen müssen, dass wir hier einigermaßen leben können. In drei Tagen beginnt die Schule und Holger hat ebenfalls nur wenige Tage bis zum Abflug nach Deutschland. Der Druck wird für uns plötzlich riesengroß und wir haben beide sehr unterschiedliche Arten wie wir damit umgehen. Der Ton wird gereizt, die Zündschnur kurz. Wir arbeiten nicht zusammen und statt uns gegenseitig zu unterstützen, blockieren wir uns eher. Unsere „Kinder“ Lucca, Hündin Wahya und Kater Findus werden zu den absoluten Superhelden. Obwohl Chaos herrscht, es brütend heiß ist und kein Schatten weit und breit, die Erwachsenen gereizt sind und keine Zeit haben, beschweren sie sich kein einziges Mal. Sie nehmen Rücksicht, warten ab und bleiben gelassen. Ich liebe meine drei Schätze so sehr dafür! Trotz aller Unstimmigkeiten zwischen Holger und mir schaffen wir das gefühlt Unmögliche: Wir bringen die Baustellen-Manager dazu, so schnell wie möglich Strom und Abwasser zu installieren und richten uns so gut wie möglich ein. Nach drei Tagen Dauerarbeit vom ersten Morgengrauen bis tief in die Nacht, haben wir es geschafft. Dank unserer neuen Solaranlage sind wir mit dem nötigsten Strom versorgt. Wir duschen mit unserer akkubetriebenen Pumpe und das Wasser dafür müssen wir vorher in einem Eimer anmischen, indem wir kaltes Wasser vom Schlauch holen und eine Kanne heißes Wasser über dem Gasherd erwärmen. Um das Abwasser und die Toilette zu entsorgen, tragen wir die Kanister zum Abwasserschacht am anderen Ende des Grundstücks. Wäsche wasche ich am Supermarkt oder auf dem nahegelegenen Campingplatz. Was super funktioniert, ist das Internet. Gott sei Dank! Ich wurde anscheinend gut beraten im Vodafone-Shop in Faro. Eine riesige Herausforderung bleibt der allgegenwärtige rote Staub, der sich einfach überall niederlässt. Ich kann mich im Laufe der Zeit mit allen Umständen ganz gut anfreunden, bis auf den roten Staub, dem ich eine Kriegserklärung gemacht habe. Mit großer Anstrengung versuche ich täglich aufs Neue, den Staub aus dem Wohnwagen, dem Vorzelt und dem Auto zu entfernen, mit mal mehr, mal weniger Erfolg. Um das Tinyhaus-Village zu verlassen, fahren wir auf roten Staubpisten, immer in Gefahr auf einem der offenen Schächte aufzusitzen oder in einen Graben zu rutschen. Anfangs sitzt mir bei jeder Fahrt der Angstschweiß auf der Stirn, doch nach wenigen Tagen machen mir die täglichen Rallyefahrten Spaß und ich beginne, wie alle hier einen Sport draus zu machen. Ich komme mir vor wie auf Safari in Afrika. Ich erwarte schon fast, dass mir Löwen und Giraffen über den Weg laufen. Doch außer den vielen halbwilden Hunden und Katzen ist nichts zu sehen.

Der erste Schultag steht bevor und ich weiß nicht, wer aufgeregter ist, Lucca oder ich. Zwischen den äußerst gepflegt wirkenden Eltern in dicken SUVs komme ich mir vor wie ein Zigeuner. Hektisch klopfe ich die letzte rote Staubschicht aus Luccas Klamotten und nehme mir vor, das Auto jeden Tag abzuspritzen. Doch die Sorge ist unbegründet. Alle sind offen und interessiert und nehmen uns herzlich in ihrer Mitte auf. Jede Familie hat ihre eigene Einwanderungsgeschichte und oft waren sie schon in vielen Teilen der Welt unterwegs. Sie leben in Tinyhäusern, auf Booten, in Miet-Appartments, auf Mangoplantagen oder in neu gebauten Villen. Alles ist vertreten. Die Kinder wachsen meist zwei- oder dreisprachig auf und es ist völlig normal, dass alle Haut- und Haarfarben vertreten sind. Die einzige Gemeinsamkeit ist ein mehr oder weniger intensiv ausgeprägter Zugang zur deutschen Sprache. Die Unterrichtssprache ist deutsch und Portugiesisch, doch die Kinder sprechen auch viel englisch. Ich liebe diesen bunten Trubel und bin fasziniert von den Menschen, die völlig frei und offen ihr Leben gestalten, sich neue Existenzen aufbauen und die ganze Welt als ihr Zuhause betrachten. Mir wird klar, genau das wollte ich erleben. Ich wollte mich mit Menschen umgeben, die mich inspirieren und mir zeigen, wie man das Leben anpackt und positiv gestaltet – und das mit großen Visionen und einer riesigen Portion Vertrauen und Selbstbewusstsein. Ich spüre meine eigenen Begrenzungen und Ängste im Moment grade sehr, doch in diesen Menschen sehe ich mein Zukunfts-Ich. Da möchte ich hin.

Die Beziehung zwischen Holger und mir gleicht momentan einer Achterbahnfahrt. Wir zoffen uns heftig und versöhnen uns wieder. Manchmal dreimal am Tag. Meine Harmoniesucht, die ich in Frankreich im Jura-Gebirge zurückgelassen habe, ist einer etwas zu hohen Konfliktbereitschaft gewichen. Ich halte mit nichts mehr hinter dem Berg und meine Diplomatie und Souveränität in Konflikten ist Holger gegenüber kurzfristig verlorengegangen. Ich teile heftig aus und das fühlt sich für Holger oft wie Schläge in die Magengrube an. Irgendwann spüren wir, dass es so nicht weitergehen kann. Holgers Abreise verschafft uns beiden den nötigen Abstand, so dass wir in Ruhe und ohne dauer-getriggert zu werden alles reflektieren können. Mir wird so einiges klar und ein tiefer und wichtiger Prozess kommt in Gang, für den ich sehr dankbar bin. Zuerst bin ich nochmal richtig wütend über Holgers scheinbar dominante Art und seine Tendenz, sofort und ohne Rücksprache Dinge festzulegen und zu regeln. Dann wird mir auf einmal klar, dass mir Holger damit meine eigene Unklarheit spiegelt und meine Tendenz, mich in stressigen Situationen lieber in die sichere zweite Reihe zurückzuziehen. Holger tritt dann sofort in dieses entstandene Vakuum ein und übernimmt das Ruder, was mich wiederum ärgerlich werden lässt. Ich sehe, wie unlogisch mein Verhalten ist und mein Ärger verwandelt sich in Wertschätzung für Holgers Bereitschaft, sofort Verantwortung zu übernehmen, in jeder noch so schwierigen Situation. Ich bewundere ihn dafür und sehe mich jetzt aufgefordert, dieselbe kompromisslose Klarheit zu leben und dafür einzustehen. Nachdem ich mein Problem erkannt und meine Blockaden aufgelöst habe, die sich hier so deutlich gezeigt haben, ändert sich sofort etwas zwischen Holger und mir. Wieder einmal merke ich: alles ist Energie und ich allein bin für meine Trigger verantwortlich. Der andere ist niemals der „Bösewicht“, sondern erweist mir einen großen Dienst, mir meine Blockaden zu spiegeln. Ich kann weiter das Opfer spielen und den anderen zum Täter machen, oder ich ergreife die Chance, meine eigene Heilung voranzubringen. Dann muss mir der andere mein Problem nicht mehr spiegeln, denn ich habe es angeschaut und transformiert. Ich bin sehr dankbar, dass wir diese Hürde geschafft haben, und um einiges leichter an innerem Gepäck, machen wir uns weiter auf unsere Reise ins neue Leben.

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