
Wir leben nun seit 6 Wochen im Tinyhouse Village. Lucca hat sich in der neue Schule gut eingefunden und nach vielen chaotischen Tagen sind die Bedingungen im Camp irgendwie normal geworden. Geändert hat sich im Außen nicht viel. Nach wie vor wird hier gebaggert und gewalzt, Tonnen Schotter aufgeschüttet und Stromkabel in tiefen Gräben verlegt. Es hat sich in mir eine Art Waffenstillstand eingestellt, ein Arrangement mit mir und dem Camp. Trotzdem weiß ich immer sicherer: hier ist nicht unser Platz. Ich bin innerlich ruhig, aber trotzdem aufmerksam für die Wegzeichen des Lebens und schon ganz gespannt, wann sie am Horizont erscheinen. Doch erst darf ich noch einmal durch eine Prüfung gehen, die mein Weltbild besonders über die Begleitung von Kindern verändern wird.

Die Beziehung zwischen meinem Sohn Lucca und mir gerät von Tag zu Tag mehr in eine Schieflage. Lucca hat hier einen sehr viel größeren Bewegungsradius. Er wird mutiger und entdeckungsfreudiger. Er findet immer mehr Freunde im Camp und gemeinsam erleben die Jungs die besten Abenteuer. Das bringt natürlich mit sich, dass er viele eigene Entscheidungen treffen und Situationen allein bewältigen muss, selbständiger und auch selbstbewusster wird. Diese Energie bringt er nach Hause mit und stellt mich und unsere Regeln sehr in Frage. Mein Sohn ist von seinem Naturell eines dieser besonderen Kinder, die kleinste Unklarheiten aufspüren und bereit sind, bis an die Grenze des (für Erwachsene) erträglichen Maßes zu gehen und wenn alle Zeichen eigentlich schon auf Sturm stehen, nochmal eine Schippe draufzulegen. Da ich ein sehr harmonieliebender Mensch bin, habe ich bisher unsere Themen über Verständnis, liebevolle Erklärungen und natürliche Konsequenzen geklärt. Doch wenn man wie Lucca gerade täglich in den Kampf zieht und neue Welten erobert, hält man nicht viel von Diplomatie. Man braucht Klarheit, Stärke und Durchsetzungskraft. Das möchte er nun von mir sehen und alles andere nimmt er einfach nicht mehr ernst. Mich macht das erstmal fassungslos. Dann kommt die Wut. Ich versuche, die alte Strategie weiterzufahren aber jeden Tag wird meine innere Wut größer und Lucca ignoriert mich zunehmend. Schließlich kommt der Tag der Detonation. Alles entlädt sich an angestautem Ärger und Frust. Ich sage Dinge, die ich seit Jahren nicht mehr gesagt und gedacht habe, ich merke, wie ich innerlich komplett in die Ablehnung gehe, ich bin laut und für mein Gefühl völlig eskaliert. Lucca wird zum ersten Mal seit langem wieder aufmerksam und kleinlaut aufgrund meines großen Auftrittes. Ich schicke ihn schließlich ins Bett und bin nicht in der Lage, ihm gute Nacht zu sagen. Ich bin am Ende meiner Weisheit und Kraft angelangt, fühle mich hilflos, überfordert und schuldig. Noch weitere zwei Tage lang rollt die Wut durch mich hindurch, wie die Wellen eines aufgewühlten Meeres. Schließlich werden die Wellen kleiner und die Wut versiegt. Was aus dem tosenden Meer neu geboren wird, ist eine felsenfeste Klarheit und ganz neue Erkenntnisse.
Erste Erkenntnis: Auch wenn mein Sohn und ich völlig unterschiedliche Bedürfnisse haben, hat es tatsächlich Priorität, dass es MIR gut geht. Ich bin hier die Rudelchefin, die Verantwortliche, die alle Fäden in der Hand hält, alles trägt und organisiert. Wie kann ich das gut machen, wenn ich mich ständig hinten anstelle? Es funktioniert nicht. Ich musste wohl erst im Boot-Camp landen und an die äußersten Grenzen meiner Belastbarkeit herangeführt werden, um das wirklich zu verstehen.
Zweite Erkenntnis: Es gibt Kinder, die mehr Klarheit brauchen als andere. Das sind Kinder, die selbst Führungspersönlichkeiten sind. Sie wollen in ihren Eltern echte Führungskompetenzen erleben. Alles andere nehmen sie nicht ernst. Das bedeutet für mich: Ich muss lernen, mich punktuell extrem unbeliebt zu machen, wenn ich eine nötige Grenze setze. Und dabei völlig cool auszuhalten, dass mein Sohn mich für einige Zeit hasst. Und ich muss lernen, der Versuchung zu widerstehen, zu schnell wieder auf Harmonie und „Komm lass uns wieder lieb haben“ zu gehen. Damit würde ich meine Führung aufgeben und meinem Sohn überlassen. Ein energetischer Rollentausch, der niemandem guttut, am wenigsten meinem Sohn. Ich setze eine Grenze, bleibe innerlich klar. Dann warte ich auf SEINE Signale der Akzeptanz. Erst dann können wir uns wieder in den Arm nehmen.
Dritte Erkenntnis: Es braucht manchmal klare Regeln, die undiskutabel sind. Und es braucht in diesem Falle Konsequenzen, die auch klar abgesprochen sind im Vorfeld, die auch nicht unbedingt in die Kategorie „natürliche Konsequenzen“ fallen. In unserem Fall ist das zum Beispiel die Uhrzeit, wann Lucca wieder zuhause sein muss. Wenn er den ganzen Nachmittag im Camp herumstromert, ohne dass ich genau weiß wo, muss ich die Sicherheit haben, dass er zu einer genau abgesprochenen Uhrzeit wieder zuhause ist. Unsere vereinbarte Konsequenz bei Nichteinhalten ist dann drei Tage Tablet-Verbot. Die Toleranz beträgt 10 min zu spät kommen und alles was drüber ist, braucht schon eine sehr gute Erklärung.
Vierte Erkenntis: Es braucht (ganz gegen alle Instagramm-Erziehungsvorgaben) manchmal eine gewisse Lautstärke, um sich bemerkbar zu machen. In lebendigen Situationen muss ich punktuell KURZ lauter sein als alle anderen Nebengeräusche, die in meinem Sohn toben und um ihn herum. Das Wort „bitte“ kann ich mir dabei komplett sparen. Denn laut meinem Sohn impliziert dieses Wort eine gewisse Freiwilligkeit, die dem anderen eine Wahl lässt, dem nachzukommen oder auch nicht. Es gibt einzelne (!) Situationen, da fordere ich meinen Sohn nachdrücklich und in der für ihn notwendigen Lautstärke zu etwas auf. Ohne Bitte. Und das ist ok. Liebevolle Bitten und höfliche Gepflogenheiten bleiben trotzdem – oder auch gerade deshalb – der überwiegende Teil in unserem Alltag.

Ich merke sofort, wie Lucca Halt und Sicherheit findet in meiner neuen Stärke und Klarheit. Ich spüre sogar eine gewisse Erleichterung von seiner Seite. Endlich habe ich bis in die letzte Konsequenz meine Führungsrolle eingenommen und das entlastet ihn ungemein. Er hat jetzt in dieser neuen Weite und Freiheit einen festen Rahmen, an dem er sich festhalten kann. Natürlich mault und motzt er, und das nicht zu wenig. Aber ich spüre, wie es ihm am Ende guttut. Er kann sich jetzt fallen lassen, auch seinen Gefühlen freien Lauf lassen und weiß, dass ich stark genug bin, um ihn zu halten.
Auch bei mir selbst spüre ich eine riesige Entlastung. Ich habe keinen Grund mehr wütend zu sein, wie cool ist das denn? Solange ich konsequent darauf achte, dass ich meine Bedürfnisse im Großen und Ganzen erfüllt habe und mich nicht mehr auf zu viele laue Kompromisse „meinem Sohn zuliebe“ einlasse, dann bin ich im Gleichgewicht mit uns beiden. Und ich muss auch nicht mehr wütend sein, wenn er sich nicht an Regeln hält, denn die Konsequenz ist klar und da braucht es keine weiteren Emotionen und Theater.
So werden wir beide wieder ein Team. Der Rahmen ist gesteckt, mein Verhalten wird wieder berechenbar. Lucca beteiligt sich nach seinen Möglichkeiten wieder am Alltag und bringt seine Stärken ein. Er hat bereits Fähigkeiten, die ich sehr schätze und er fühlt sich gesehen als wichtiger Teil des Teams. Hier im Camp wird auch für ihn noch klarer: es funktioniert nur, wenn alle mithelfen. Jeder wird gebraucht und das Team kann es sich nicht leisten, dass einer nur profitiert und die anderen dafür mehr arbeiten müssen. Das lässt ein empfindliches Gleichgewicht kippen. Was in Deutschland vielleicht weniger deutlich war, wird hier offensichtlich.
Wieder merke ich, wie ehrlich und direkt das Leben jetzt antwortet. Das scheint oft auf den ersten Blick brutal zu sein, auf den zweiten Blick ist es einfach nur sehr klar und ehrlich und lädt zu einer Kurskorrektur ein. Ich merke, ich kann mich auf die Zeichen des Lebens verlassen, denn sie sind immer für mich. Wenn ich nicht im Widerstand bin, sondern offen für das, was mir das Leben jetzt wieder sagen möchte, dann kann ich alles willkommen heißen, was da kommt.

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