… ein Wort gab das andere. Wütend rauschte André aus dem Zimmer. Natalie blieb alleine in der Küche zurück. Adrenalin rauschte durch ihren Körper. Sie wollte schreien, treten, weglaufen…. Doch sie war wie gelähmt, ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Kraftlos sank sie auf den Küchenboden. Innerlich war sie wie erstarrt. In ihrem Kopf rauschte es, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Minutenlang saß sie dort, unfähig zu denken und zu handeln. Wie von weitem hörte sie die Wohnungstüre zufallen. Er war weg. Panik breitete sich in ihr aus. Sie war alleine, ganz auf sich allein gestellt. Zu den Gefühlen von Hilflosigkeit und Verzweiflung kamen innere Bilder in ihr auf. Natalie war wieder fünf Jahre alt. Still und unbeweglich saß sie ihn ihrem Kinderzimmer. Von draußen hörte sie Geschrei und schließlich Türenschlagen. Stille. Die Schatten wurden länger, Dunkelheit breitete sich aus. Schließlich wurde es Nacht. Vorsichtig kauerte sich die kleine Natalie in ihr Bett. Ihr Magen knurrte. Hungrig schlief sie schließlich ein. Allein. Ignoriert. Übersehen.

Die Bilder der Kindheit verblassten. Nach einer unruhigen Nacht rappelte sich Natalie hoch. Erstmal Duschen, Kaffee. Mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand saß sie kurz darauf am Küchentisch und schaute auf ihr Handy. Andre hatte mehrere Nachrichten geschickt. Erst zerknirscht und voller Schuldgefühle. Schließlich besorgt. Erleichterung durchflutete Natalie. Es war ein harmloser Streit gewesen. Nichts Schwerwiegendes. Warum um alles in der Welt machte sie aus jeder kleinen Auseinandersetzung solch ein Drama? Als würde es um Leben und Tod gehen? Sie seufzte verzweifelt. Sie konnte sich selbst nicht verstehen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, aber was…? Es war doch nie etwas Schlimmes passiert in ihrem Leben? Natürlich war da die Scheidung ihrer Eltern gewesen, aber das machten doch viele Kinder durch, da gab es doch viel Schlimmeres…

Bindungstrauma und Entwicklungstrauma – die oft übersehenen Geschwister des Schocktraumas

Trauma hat viele Gesichter und umfasst in seiner Schwere ein großes Spektrum. Es muss nicht immer der große Raubüberfall, das Lawinenunglück oder eine Gewalterfahrung sein. Dies sind Erlebnisse, die ein Schocktrauma auslösen können. Bindungstraumata und Entwicklungstraumata dagegen entstehen oft leise und unsichtbar für die Außenwelt. Sie wirken zerstörerisch durch den dauerhaften und zu hohen Stress, den wir in unserer frühen Kindheit, manchmal schon im Mutterleib erfahren. Es sind die vielen kleinen und subtilen Risse, die unsere Kinderwelt erfährt und die unser Fundament schließlich brüchig machen können. Oft haben wir nicht einmal Erinnerungen, die uns die Möglichkeit geben würden, unser Leid zu erforschen, welches wir als Erwachsene so oft spüren. Oft sind es nur Emotionen, die uns fluten, ganz und gar überwältigen. Trigger nennt man diese meist harmlosen Auslöser, die uns in alptraumhafte Zustände katapultieren können, in denen wir entweder nicht mehr handlungsfähig sind oder auch wie fremdgesteuert reagieren. Trigger können bestimmte Situationen sein, ein Tonfall oder ein Geruch. Alles, was unsere Sinne in traumatisierenden Situationen abgespeichert haben und bei einem Wiedererleben sofort mit Gefahr verbinden. Es kann sich so anfühlen, als ob jemand anderes in uns plötzlich das Steuer übernehmen würde. Etwas oder jemand, der nicht richtig zu uns gehört und doch Teil unserer Persönlichkeit ist. Man nennt solch einen Persönlichkeitsanteil „emotionalen Persönlichkeitsanteil“. Er entsteht in Situationen, die unser System komplett überfordern und trägt die ganze Last der gespeicherten Emotionen und Körperempfindungen. Weil er die Gesamtpersönlichkeit zu sehr belastet, wird er so weit wie möglich nach hinten gedrängt oder sogar komplett abgespalten aus dem Tagesbewusstsein. Der emotionale oder verletzte Persönlichkeitsanteil kann sich nicht weiterentwickeln und verharrt auf der Entwicklungsstufe der Entstehungszeit. So fühlt, denkt und handelt er aus der Erlebniswelt des verstörten fünfjährigen Kindes heraus wie im Beispiel von Natalie beschrieben. Durch Sinneseindrücke, die als Trigger wirken, prescht der verletzte Persönlichkeitsanteil nach vorne und übernimmt das Steuer der Gesamtpersönlichkeit. Dann kann das passieren, was man in der Psychologie einen „flashback“ nennt. Wir erleben das ganze Grauen von damals noch einmal. Für unser Gehirn macht es keinen Unterschied, ob das Erlebnis „nur“ in unserem Kopf stattfindet oder real, denn es werden dieselben Neuronengruppen aktiviert.

Abspaltung als Überlebensstrategie

Was in uns so großes Leid verursacht, macht für unsere Seele und unseren Körper jedoch großen Sinn. Sinn im Sinne von Überleben. Körperliches und Seelisches Überleben kann manchmal nur dann garantiert werden, wenn Erlebnisse, die unser System überfordern, einfach abgespalten werden. Wir bezahlen dafür allerdings einen hohen Preis, denn wir verlieren die Verbindung zu uns selbst, und in der Folge die Verbindung zu anderen.  

Wieder in Verbindung durch Traumatherapie

Hier kann Traumatherapie helfen. Sanft und vorsichtig wird wieder eine Verbindung zu den verletzten und zurückgedrängten Persönlichkeitsanteilen aufgebaut. Liebevoll wird das fünfjährige Kind in uns an die Hand genommen, beruhigt und getröstet. Es darf wieder in die Gesamtpersönlichkeit integriert werden mit all seinen Erlebnissen und Erinnerungen. Dann kann es wachsen und älter werden. Es lernt, die Alltagssituationen richtig einzuschätzen und erfährt, dass es nicht alleine ist. Es bleiben Erinnerungen zurück, die wie Narben schmerzen können. Aber sie sind dann das, was Erinnerungen sein sollen: verarbeitete Erlebnisse, die unser Leben geprägt haben. Aber sie steuern uns nicht mehr. Wir sind wieder vollständig in Verbindung mit unserem Selbst.

Ich wünsche mir, dass immer mehr Menschen die Zusammenhänge erkennen zwischen ihren Kindheitserlebnissen und dem Leid und den Belastungen, die sie als Erwachsene mit einem unglaublichen Aufwand an Kraft durch ihr Leben tragen. Wenn du dich hier wiedererkennst, möchte ich dich ermutigen, dich deinen Verletzungen zuzuwenden. Auch du kannst wieder Leichtigkeit und Lebensfreude in dein Leben zurückholen. Suche dir dabei Unterstützung, du bist nicht alleine!

Wenn du Fragen hast, schreib mir. Ich helfe dir gerne weiter.